Über Heterometrik

Wie nennt man eine Musik, bei der die Zeitachse durch einen Grundschlag in gleich lange Abschnitte gegliedert ist, ohne dass diese Zeitabschnitte wiederum zu gleich langen Gruppen - also Takten - zusammengefasst werden? Bei der man also einen Grundschlag mitklopfen kann, aber keine Eins? Die Frage tauchte auf, als ich nach einer griffigen Bezeichnung für meine bevorzugte rhythmische Technik suchte.

Strawinskys Sacre du Printemps mit seinen permanenten erratischen Taktwechseln, etwa im Danse Sacrale, ist das bekannteste Beispiel. Bartók hat die Technik übernommen, verfeinert und zu einem grundlegenden Prinzip seiner späten Kompositionen gemacht. Steve Reichs Tehillim gehört ebenfalls in diese Kategorie.

Im Jazz wird man oft in Soli fündig werden, aber eher selten im Kollektiv: nämlich immer dann, wenn ein deutlich hörbarer und/oder fühlbarer gleichmässiger (!) Puls regiert, ohne dass sich etwaige Betonungen gleichmäßig wiederholen und zu einem zyklischen Muster (= Takt) zusammensetzen. Diese Erscheinungen sind jedoch meistens flüchtig und lösen sich schnell wieder auf, entweder in ganz freie Strukturen oder einen bestimmten Takt.

Die Eingangsfrage ist simpel, dennoch hat sich die Musiktheorie noch nicht auf eine einheitliche, amtliche Benennung einigen können. Beim Danse Sacrale heisst es z.B. oft, die Rhythmik sei asymmetrisch, anderswo nennt man sie freimetrisch. Beide Begriffe werden aber für gewöhnlich in anderem Sinne verwendet: asymmetrisch für einen krummen Takt, etwa einen 7/8, freimetrisch für eine Musik ganz ohne Grundschlag. Für den Danse Sacrale passt keiner von beiden.

Boris Blacher hat seinerzeit eine Technik entwickelt, die er variable Metrik nannte. Es gibt einen festen Grundschlag, und ausgehend etwa von einem elementaren 2/8-Motiv werden die Takte um jeweils ein Achtel verlängert oder verkürzt und dann hintereinandergeschaltet, also z.B. 2/8-3/8-4/8-5/8-6/8-7/8-8/8-9/8-8/8-7/8 usw. Dahinter steht die Idee der Musterbildung, und dementsprechend heisst die erste Arbeit in dieser Art Ornamente (1949). Was Blachers Ansatz von den Taktwechseltechniken à la Bartók und Strawinsky allerdings fundamental unterscheidet, ist die Unvorhersehbarkeit der Wechsel, wie sie von den beiden Älteren ja gezielt implementiert wurde. Und gerade die ist bei Blacher nicht gegeben: wer will, kann mitzählen und ist dann auf dem Punkt. Obwohl der Sache schon näher kommend, scheint die variable Metrik also nicht die ideale Bezeichnung zu sein.

In Frage kommen auch Begriffe wie Wechselmetrik oder flexible Metrik. Deren Semantik ist allerdings zu umfassend und unscharf. Zum Beispiel bedient sich ein bayrischer Zwiefacher eines regelmässigen Wechsels zwischen verschiedenen Taktarten. Die Wechsel sind aber nicht spontan, das Merkmal der Unvorhersehbarkeit nicht gegeben - passt also auch nicht.

Hilfe kommt aus aussermusikalischen Gefilden, von Lyrik und Verslehre. Auch hier geht's schliesslich um Metriken und Betonungsmuster, und eine wichtige Rolle spielt dabei das gegensätzliche Begriffspaar Isometrie-Heterometrie. Eine gute Erklärung liefert dieser Blog (abgedichtet.org):

Für gewöhnlich trifft man in der Praxis rein zweizeitig (jeder zweite Schlag ist betont = Imabus/ Trochäus) oder rein dreizeitig (jeder dritte Schlag ist betont = Daktylus/Anapäst/Amphibrachis) rhythmisierte Verse an, wobei jeder Vers einer Strophe die gleiche Zahl an Hebungen hat. Man spricht bei diesem Bauprinzip von Isometrie. Isometrie ist aber nicht die einzige Möglichkeit metrischen Versbaus. Durch die Kombination zwei- und dreizeitiger Füße innerhalb desselben Verses und unterschiedliche Anzahl der Hebungen in den Versen untereinander lassen sich Mischmetren etablieren, die sehr eigene, reizvolle Effekte mitbringen können. Man spricht in diesem Falle von Heterometrie.

Bei Goethes An den Mond dürfte noch relativ klar sein, dass es sich um reine, abwechselnd vier und dreihebige Trochäen mit starker Kadenz handelt. Bei Goethes Erlkönig wird es schon schwieriger. Zwar finden sich hier durchgehend vier Hebungen pro Vers und ausschließlich starke Kadenzen, zwischendurch hoppelt es jedoch gewaltig, da an unterschiedlichen Stellen immer wieder dreizeitige Füße eingeschoben werden.

Wirklich heterometrische Verse begegneten mir aber erst in den Lais der spätmittelalterlichen Spruchdichter.

Ich wil, ich kan, ich muz gewern.
ich binz der lebende leitestern,
des nieman sol noch mag enbern.
min mut gut frut tut.
ich binz die stimme, do der alte leo lut
die sinen kint uf von des alten todes flut.
Ich binz die glut,
da der alte fenix inne sich erjungen wolte.
ich binz des edelen tiuren pelikanes blut
und han da allez wol behut.

Ein heterometrisches Metrum ist durchkomponiert, unvorhersehbar und beständig überraschend. Die Zeilen einer heterostrophischen Strophe können über den Endreim oder den Versbau (Rhythmus, Zahl der Hebungen) miteinander in Beziehung stehen, variieren aber beständig ihr metrisches Muster.

Bei den spätmittelalterlichen Minneversen tritt somit das gleiche, von Bartók und Strawinsky verwendete Moment der Unvorhersehbarkeit auf. Man kann diese Rhythmen also mit Fug und Recht als heterometrisch bezeichnen, substantiviert Heterometrik in Anpassung an die gängige musikalische Terminologie (Polymetrik, variable Metrik usw.).

Die Heterometrik stellt eine echte Zwischenstufe zwischen zeitlich ungebundener und taktgebundener Musik dar. Sie ist weniger einengend als letztere und strukturiert die Zeit in einer offenen, flexiblen und anregenden Art und Weise, gleichwohl verbindlicher als im unregulierten Free Jazz. Sie positioniert sich an der Grenzlinie zwischen Ordnung und Chaos und bildet so eine enorm fruchtbare Plattform für meine Improvisationen.